Die Arbeit mit großen Gruppen und die darin entstehende Dynamik kann für manchen Menschen teilweise beängstigend wirken. Ist die Gruppe gerade in der Divergenzphase, so denkt manch einer, “es gerät außer Kontrolle” und versucht, wieder Ordnung und Kontrolle herzustellen. Wir sind in unsere westlichen Welt gut darin, “Dinge unter Kontrolle zu bringen”. Das hat auch seine Vorteile, wo es benötigt wird. In dem Fall, wenn wir jedoch eine Vielfalt von Ideen generieren wollen, kann es dazu führen, dass ein Prozess frühzeitig abgebrochen wird und die Gruppe ihre innewohnende Weisheit nicht heben kann.
Um solche Situationen besser zu verstehen, ist es hilfreich, wenn man ein wenig Systemtheorie kennt. Ein Modell, das in Art of Hosting dazu verwendet wird, ist das Cynefin [/ˈkʌnɨvɪn/] Modell. Es unterstützt dabei, Probleme, Situationen und Systeme als Ganzes einzuordnen und zu beschreiben. Mir hat es sehr geholfen, teilweise chaotische Situationen besser zu verstehen und darin zu handeln. Und ich habe mit der Zeit festgestellt, dass dieses Modell noch sehr viel mehr bietet, als nur aktuelle Hosting-Situationen zu verstehen. Für mich liegt darin auch die Erklärung, warum wir Art of Hosting so machen, wie wir es machen. Doch dazu am Ende mehr.e
Das Cynefin-Modell
Das Wort Cynefin stammt aus dem Walisischem und wurde vom walisischen Wissenschafter Dave Snowden gewählt und wird laut Wikipedia “üblicherweise im Deutschen mit ‘Lebensraum’ oder ‘Platz’ übersetzt […], obwohl diese Übersetzung nicht seine volle Bedeutung vermitteln kann.“. Es geht dabei darum, was die Elemente eines Feldes und wie deren Beziehungen untereinander sind. Das Modell kategorisiert fünf Zustände, Kontexte oder Domänen.
- Einfach (simple)
In diesem Kontext sind die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung einfach und offensichtlich. Man kann schnell erkennen, was eine Aktion auslöst. Ein Beispiel kann eine Fahrradbremse sein: ich ziehe am Bremshebel, die Bremsen schließen sich und das Fahrrad wird langsamer. Der Ansatz, mit dem man in einem solchen Kontext handelt ist Messen – Einordnen – (Re-)agieren. Jeder kann mit gesundem Menschenverstand sehen und agieren. Man kann hier Best Practice anwenden, d.h. es gibt eine vorbildliche (beste) Lösung, um das Problem anzugehen.
- Kompliziert (complicated)
In einem solchen Kontext ist die Ursache-Wirkungs-Beziehung nicht so offensichtlich, aber es gibt sie. Es bedarf einiger Analyse oder des Wissens eines Experten, um die Beziehung zu erkennen. Der Ansatz hier ist Messen – Analysieren – (Re-)agieren. Ein Beispiel hier wäre die Höhensteuerung eines Flugzeuges. In dieser Domäne waren auch bisher die klassischen Untenehmensberatungen (Expertentum) unterwegs. Good Practice Ansätze können hier verwendet werden, damit ist gemeint, dass verschiedene Vorgehensweisen und Lösungen anwendung finden, da es of schwierig und langwierig ist, die beste Lösung zu finden.
- Komplex (complex)
In komplexen Kontexten gibt es keine klare Beziehung von Ursache und Wirkung und die Auswirkung einer Aktion kann höchstens im Nachhinein erkannt werden (und auch das nicht immer). Hier kann man nicht mehr mit klassischen “Kontroll”ansätzen herangehen, es ist nicht mehr planbar, was das Ergebnis sein wird, man muss sich auf Unsicherheiten in der Vorhersagbarkeit einlassen. Der Ansatz, um handlungsfähig zu bleiben, ist hier, Ausprobieren – Messen – (Re)agieren. Es bilden sich hier emergente Praktiken. Man kann davon ausgehen, dass jedes System mit menschlicher Interaktion komplex ist.
- Chaotisch (chaotic)
Ein Zustand, in dem Ursache und Wirkung auf Systemebene keine Beziehung haben. Es handelt sich um einen Zustand in dem das System unter großem Stress steht, es bleibt keine Zeit auszuprobieren, man muss einfach handeln. Ein typisches Beispiel sind (Natur-)Katastrophen und wie man damit umgeht. Das chaotische System droht in einen simplen Zustand zu kollabieren, d.h. man grteift zurück auf einfache Wahrheiten und handelt schnell und instinktiv. Da dieser simple Zustand dazu tendiert, die Vielschichtigkeit des Systems zu unterdrücken, kann es immer wieder in den chaotischen Zustand zurückfallen. Um einen chaotischen Zustand zu stabilisieren, ist der Ansatz Agieren – Messen – (Re-)agieren angebracht. Dieser chaotische Zustand kann neuartige Praktiken hervorbringen (siehe chaordischer Pfad).
- Verwirrung (disorder) – Hier ist nicht klar, in welches Zustand sich das System befindet. Die Menschen tendieren darin bei Entscheidungen dazu, sich in ihre Komfortzone zurückzuziehen.
Für die Praxis
Es gibt eine ganze Reihe über dieses Modell zu erzählen und Dave Snowden macht 4-tägige Seminare zu dem Modell und dessen Anwendung. Ich möchte ein paar Aspekte noch hervorheben.
Zum einen sind Systeme nicht klar der einen oder anderen Domäne zuzuordnen. Die Übergänge sind fließend und können sich im Laufe der Zeit (auch in der Arbeit beim Hosten) verschieben. Ein Übergang ist jedoch anders als die anderen: der Übergang von Einfach zu Chaotisch. Er wird in der Darstellung (siehe oben) meist als Klippe dargestellt, d.h. es kann sehr schnell von einem zum anderen Zustand kippen und das wird als bedrohlich wahrgenommen.
Die beiden rechten Domänen (einfach, kompliziert) kann man als kontrollierbare Domänen bezeichnen, d.h. man kann auch einen planungs- und ergebnisorientierten Ansatz wählen. Es gibt einen (Projekt-)Anfang und ein -Ende. Die linken Domänen (komplex, chaotisch) sind unkontrollierbar. Zieldefinitionen und Ergebniserwartungen sind hier nicht angebracht. Es handelt sich um fortlaufende Interventionen, die nicht mit einem definierten Zustand zu einer gegebenen Zeit abschließen.
Jede dieser Domänen bedarf einer anderen Art der Führung: In den kontrollierbare Domänen sind Probleme etwas, “was man wissen kann“. Sie sind der Bereich der technischen Führung, wie eben wissenschaftliche Forschung, analytisches Denken, traditionelles Projektmanagement und strategische Plannung. Technische Probleme haben Lösungen, die man kennen kann. Wenn man aber die Grenze zur Komplexität überschreitet und in die unkontrollierbaren Domänen kommt, kommt man in das Reich dessen “was man nicht weiß“. Komplexe Probleme sind durch emergente Phänomene gekennzeichnet, d.h. Phänomene, die aus dem entstehen, was da ist, aber nicht vorhersehbar sind, bis sie sich zeigen. Es hat sehr viel auch mit dem zu tun, was Otto Scharmer in der U-Theorie als “leading from the emergent future” (Presencing Institute) nennt. In anderen Worten, man kann nicht vorhersagen, was die Ergebnisse sein werden.
Auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet kann man Armut, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Kultur, Frieden und Konflikte oder auch den Klimawandel als solche emergenten Phänomene sehen. Man kann keine einzelnen Ursachen ausmachen, die dazu führen und selbst wenn man Teile der Dynamik versteht, hat man kein Wissen darüber, wie die Dinge sich entwickeln werden. Solche Herausforderungen brauchen adaptive Führung, die u. a. improvisieren kann, kollaboratives Lernen und Selbstorganisation unterstützt. Ein Veränderungsprozess in einem Unternehmen fällt für mich in die gleiche Kategorie.
Für Art of Hosting
Menschliche (freie) Interaktionen kann immer als kompliziert bezeichnet werden und wir wollen im Art of Hosting meist genau diese selbstorganisierten und partizipativen Interaktionen ermöglichen. Daraus ergibt sich für mich auch eine Erklärung und Verständnis, warum viele Dinge so gemacht werden, wie sie gemacht werden. Z.B. können wir in einer Veranstaltung nie sagen, was das Ergebnis sein wird. Wir können nur Räume öffnen, in denen sich die Gruppe entfalten und in einen emergenten Prozess eintreten kann.
Ausserdem ist es wichtig, beim Hosten nie an dem geplanten Prozess festzuhalten, wenn sich in der Gruppe etwas anderes zeigt. Dann ist eine methodische Sicherheit und Improvisationskunst gefragt, um den Prozess den Bedürfnissen der Gruppe anzupassen.
Damit wirklich Neues entstehen kann, ist genau dieser Weg nötig, indem man die ganze Komplexität (und Diversität), die in einer Gruppe ist, einlädt und so in diesen chaordischen Raum kommt, indem Innovationen entstehen können. Das Gleiche gilt bei einem Prozessdesign: Man kann vorher nicht wissen, was hinterher herauskommt. Jede Gruppe, jede Situation ist anders. Mit der Zeit und mit Erfahrung, lernt man einzuschätzen, was gehen könnte und was nicht. Und jedes Hosten ist immer ein Ausprobieren, ein Hinspüren und ein Anpassen des Prozesses an die aktuelle Situation. Genau deshalb heißt es für mich auch ART, also die Kunst des Hostens.
Mich unterstützt dieses Wissen sehr (u.a. dabei, ruhig zu bleiben), wenn ich mal wieder in einer Gruppe bin und versuche zu verstehen, was gerade vor sich geht.
Was ist Deine Erfahrung im Umgang mit Komplexität?
Thomas